Müssen Wissens- und Erfahrungsvorsprünge einzelner Bieterunternehmen ausgeglichen werden?
Die Vergabe öffentlicher Aufträge hat unter Berücksichtigung der vergaberechtlichen Grundsätze des Wettbewerbs, der Transparenz und der Gleichbehandlung im chancengleichen Wettbewerb zu erfolgen. Vor diesem Hintergrund gebietet § 7 Abs. 1 VgV beim Einsatz vorbefasster Unternehmen angemessene Maßnahmen zu ergreifen, die sicherstellen, dass durch die Teilnahme keine Wettbewerbsverzerrung eintritt. Mit anderen Worten sind Wissensvorsprünge sog. „Projektanten“ durch den öffentlichen Auftraggeber auszugleichen. Aber geht dies auch so weit, dass auch durch vorangegangene Aufträge erlangtes Spezialwissen bzw. andere Vorteile eines Unternehmens gegenüber anderen Bietern auszugleichen sind?
Mit dieser Frage hatte sich die VK Bund (B.v. 19.1.2022, VK 1 – 138/21) zu befassen.
Ausgeschrieben war der Betrieb eines Gewässerbehandlungsschiffs zur Neutralisierung versauerter Gewässer. Erforderliche Neutralisationsmittel wurden erstmals mit Einheitspreis in Mol (Bezeichnung der physikalischen Stoffmenge) anstelle von Tonnen ausgeschrieben. Anzugeben war der Neutralisationswert der einzusetzenden Mittel, der durch Laboruntersuchungen zu ermitteln war. Ein Bieter bemängelte – trotz zwischenzeitlicher Anpassung der Berechnungsgrundlage -, er könne auf dieser Grundlage sein Angebot nicht kalkulieren. Zudem sei der zuletzt beauftragte Leistungserbringer in die zukünftige Angebotsabgabe mit MegaMol-Preis „eingeweiht“ gewesen. Der Vorauftragnehmer habe entsprechend einen nicht ausgeglichenen Wissens- und Marktvorsprung.
Die Vergabekammer sieht keine Notwendigkeit des Ausgleichs. Wettbewerbsvorsprünge eines Bieters, der sich aufgrund der Ausführung eines Vorauftrags bereits auf die Besonderheiten des Auftraggebers eingestellt hat, bedürfen keines Ausgleichs durch den Auftraggeber. Es entspreche der normalen Rollen- und Risikoverteilung, wenn sich ein Vorauftragnehmer an der Ausschreibung eines Folgeauftrags beteiligt.
Die Entscheidung reiht sich in eine Reihe weiterer Entscheidungen ein, bei denen „Marktvorteile“ gegenüber ausgleichsbedürftiger Vorbefassung abzugrenzen waren:
So erfordere es der Gleichbehandlungsgrundsatz des § 97 Abs. 2 GWB nicht, den Vorteil auszugleichen, den ein Bieter durch Praxiserfahrung bei der Erbringung einer Leistung erlangt hat, die er in einem vorangegangenen wettbewerblichen Vergabeverfahren in legitimer Weise erlangt hat. Ein solcher Vorteil ist, wie häufig bei für die Auftragsausführung relevanten Spezialkenntnissen, Ausdruck des wettbewerblichen Marktgeschehens und der unterschiedlichen Marktpositionen der Ausschreibungsteilnehmer. (VK Bund, B.v. 21.1.2022, VK 2 – 131/21)
Gleiches gilt für etwaige Vorteile aufgrund geringerer Kosten (bspw. geringere Migrationskosten), die aus einem Vorauftrag resultieren. Vorteile des Vorauftragnehmers, die keine vom Auftraggeber gesetzte Bedingung sind, sondern aus der Markttätigkeit des Unternehmens resultieren, sind nicht vom Auftraggeber zu kompensieren, auch wenn diese (Vor-)Tätigkeit beim Auftraggeber selbst erfolgt ist. (VK Bund, B.v. 10.3.2017, VK 2 – 19/17)
Es ist zu begrüßen, dass die VK Bund einmal mehr klarstellt, dass es zwar Aufgabe des Vergaberechts ist, Informationsvorsprünge eines Unternehmens auszugleichen, die auf den öffentlichen Auftraggeber zurückzuführen sind (vgl. § 7 VgV). Demgegenüber ist es jedoch nicht Aufgabe des Vergaberechts, Erfahrungsvorsprünge gegenüber anderen Bietern zu nivellieren, die sich auf der individuellen Erfahrung des Unternehmens ergeben. Diese sind die legitime Konsequenz seiner unternehmerischen Tätigkeit im Wettbewerb. (VK Bund, B.v. 3.3.2015, VK 1 – 4/15) Jede andere Sichtweise widerspräche auch dem Vergaberecht zugrundeliegenden Wettbewerbsgrundsatzes. Schließlich gehört es gerade zum Wesen des Wettbewerbs, dass Wettbewerber durch Erfahrungs- und Kenntniszugewinn mit der Zeit ihre Marktposition verbessern.
von Prof. Dr. Christian-David Wagner, Fachanwalt für Vergaberecht
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