Binnenmarktrelevanz – mehr als nur ein Schlagwort?
Die Frage nach der Binnenmarktrelevanz eines Beschaffungsvorhabens stellt sich immer dann, wenn das europäische Kartellvergaberecht, mithin das GWB, die VgV, die SektVO oder die KonzVgV keine Anwendung findet. Von besonderer Bedeutung sind dabei diejenigen Fälle, in denen der Auftraggeber noch nicht einmal die nationalen Vergaberechtsregelungen beachten muss. Spielt das Vergaberecht in diesen Fällen überhaupt keine Rolle oder müssen wenigstens die allgemeinen Prinzipien beachtet werden? Die nachfolgenden Ausführungen sollen eine Antwort auf diese Frage geben. Hierbei soll darauf eingegangen werden, was eigentlich unter dem Schlagwort „Binnenmarktrelevanz“ zu verstehen ist, unter welchen Voraussetzungen eine Binnenmarktrelevanz zu bejahen ist und was es für das Beschaffungsvorhaben bedeutet, wenn es binnenmarktrelevant ist.
Vereinfacht gesprochen, geht es bei der Binnenmarktrelevanz um die Frage, ob an dem konkret zu vergebenden Auftrag ein grenzüberschreitendes Interesse besteht und daher die Möglichkeit eines EU-weiten Wettbewerbs eröffnet werden muss; also ob z.B. ein niederländisches Unternehmen an einem Auftrag in Köln interessiert sein könnte. Aspekte, die ein derartiges grenzüberschreitendes Interesse belegen, sind zum einen das Auftragsvolumen und zum anderen der Auftragsort. Auch wenn es auf den jeweiligen Einzelfall ankommt, gilt folgende Faustformel: Je weiter der Auftragsort von einer Binnengrenze entfernt ist, desto höher muss das Auftragsvolumen sein, um eine Binnenmarktrelevanz zu bejahen. Oder umgekehrt: je näher die Binnenmarktgrenze ist, desto geringer muss auch das Auftragsvolumen sein. Weitere Aspekte sind die Größe und Struktur des jeweiligen Marktes sowie die wirtschaftlichen Gepflogenheiten. Im Hinblick darauf sollte ab einem Auftragswert von 10% des jeweiligen Schwellenwertes oder einer Entfernung von bis zu 200 Kilometern zur nächsten Binnenmarktgrenze stets eine Binnenmarkrelevanz des Beschaffungsvorhabens unterstellt werden.
Ist eine Binnenmarktrelevanz anzunehmen, hat der Auftraggeber die allgemeinen Grundsätze des Vergaberechts, mithin das Wettbewerbs- und Transparenzprinzip sowie das Diskriminierungsverbot zu beachten. Und zwar unabhängig davon, ob das nationale Vergaberecht Anwendung findet. Anderenfalls droht die Gefahr, dass die Wahrung des Wettbewerbs-, des Transparenz- und Gleichbehandlungsgebots im Rahmen einer einstweiligen Verfügung durchgesetzt wird.
Für die Beschaffungspraxis bedeutet dies, dass die Auftragsvergabe nicht nur national, sondern EU-weit bekannt gemacht werden muss. Die Bekanntmachung auf der Internetseite des Auftraggebers ist daher in keinem Fall ausreichend; selbst dann nicht, wenn die Vergabestelle noch nicht einmal dem nationalen Vergaberecht unterworfen ist. Ferner sind von der Vergabestelle ausreichende Fristen , beispielsweise für die Angebotsabgabe vorzusehen. Die Fristen sind so zu bemessen, dass eine Beteiligung eines Anbieters aus dem EU-Ausland möglich ist. Darüber hinaus dürfen keine Eignungskriterien aufgestellt werden, die nationale Anbieter bevorzugen, wie etwa der Nachweis eines Meistertitels.
Und wie gewährleistet die Vergabestelle einen EU-weiten Wettbewerb, wenn noch nicht einmal die nationalen Vergabevorschriften Anwendung finden? Hier empfiehlt sich die Durchführungen eines sog. Interessenbekundungsverfahrens. Dabei handelt es sich letztlich um einen vereinfachten Teilnahmewettbewerb zur Auswahl von Bewerbern, die zur Angebotsabgabe aufgefordert werden sollen.
Fazit: Die Tatsache, dass eine Vergabestelle nicht ausdrücklich an das Vergaberecht gebunden ist, bedeutet noch lange nicht, dass dem Vergaberecht keine Bedeutung zukommt. Vielmehr ist in diesen Fällen zu prüfen, ob das konkrete Beschaffungsvorhaben eine Binnenmarktrelevanz aufweist. Dabei ist auf die Wechselwirkung zwischen dem jeweiligen Auftragsvolumen und dem Auftragsort abzustellen. Wird die Binnenmarktrelevanz des Beschaffungsvorhabens bejaht – wovon im Zweifel immer auszugehen ist – finden die vergaberechtlichen Grundsätze „durch die Hintertür“ Anwendung. Hierbei ist vor allem auf eine ausreichende Bekanntmachung und angemessene Fristen zu achten.
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